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Dieser Blick auf diesen Sonnenuntergang war nicht geplant. Das ist die Geschichte dazu. Als wir gestern morgen in Biloxi starten wollten, entdeckte Angie einen Platten. Am Hinterreifen. Wo sonst. Reparieren und los.... da entdecke ich, dass eine Halterung der hinteren Satteltasche ausgerissen ist. AHHRGG. Seit der Outdoor-Ausrüster aus dem Allgäu die Schrauben von Hand statt mit dem Inbusschlüssel festziehen lässt, habe ich nur Ärger, weil sich der Mist viel zu einfach lockert. Mit dem Werkzeug kann man die Schraube fester anziehen als mit zwei Fingern. Gut gemeint, aber nicht zu Ende gedacht. Elendes Gefiesel, bis das Mistding wieder an Ort und Stelle saß, dazu die Unsicherheit, bis wann es sich wieder lockern würde. Ich will der Ausrüstung vertrauen können! Schlechter Start, aber kein Drama. Von der eingeplanten Pufferzeit waren noch 50% übrig.
Angies Zahn, bzw. das, was davon übrig ist, macht zeitgleich Zicken. Das Problem ist nun schon 4 Tage alt, aber frühestens morgen hat wieder eine Zahnarztpraxis geöffnet. Ok, weiterradeln. Hilft ja nichts. Wetter gut, Meer grandios, Seitenstreifen vorhanden. Auf geht's, weiter geht's... Platten an Hermanns Rad. Hinterreifen, was sonst! Nagel, aha. Reparatur am Straßenrand. Pufferzeit auf 0% geschrumpft. Jetzt darf überhaupt nichts mehr passieren. Weiter geht's.... Hermanns Hinterrad eiert wie Hölle, als wäre irgenwo eine Orange in den Reifen geraten. Ich prüfe, ob ich den Mantel am Ventil sauber eingepasst habe. Habe ich. Sonst etwas besonders? Nein. Reifen wieder ausgebaut, Luft aus (neuem) Schlauch raus, Reifen geknetet, wieder in die Felge gedrückt, aufgepumpt (jedesmal 150 Pumpaktionen).... Reifen eiert immer noch wie Hölle. Wo ist die Orange im Reifen? Was ist da los? Gottseidank kein Schaden an der Felge oder den Speichen, aber vom Radeln bekomme ich Schluckauf. Lästig, aber machbar. Pufferzeit auf -10% geschrumpft. was bedeutet, dass wir das auserkorene Tagesziel nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit erreichen können. Zu diesem Zeitpunkt waren wir gerade einmal 20 Kilometer unterwegs. Natürlich habe ich für solche Fälle einen Plan B. Raus mit dem Notizblock und schnell die Hotels geprüft, die in erreichbarer Nähe sind. Ok, wir müssen noch 15 Kilometer bis Pascagoula. Dort werden wir wohl oder übel bleiben müssen. Der für morgen dringend anvisierte Zahnarzttermin für Angie ist damit außer Reichweite. Hilft nichts. Es ist Sonntag und alles ist geschlossen. Also ab zum nächsten Motel, wo wir auf dem Parkplatz erst einmal die Karte studieren und mögliche Optionen durchsprechen. Während wir noch über der Karte brüten, biegt ein Auto in den Parkplatz ein und hält neben uns. Andere Gäste? Nein. Sondern Mike und Darlene aus Pascagoula. Mike ist leidenschaftlicher Radler. Er hat uns schon auf seinem Weg nach Biloxi gesehen und nun auf dem Rückweg hier auf dem Parkplatz vor dem Motel wieder entdeckt.
"How are you?", fragt Mike."Nun", sage ich, "ehrlich gesagt nicht sehr gut. Wir hatten einen wirklich schlechten Tag und wissen im Moment ehrlichg gesagt nicht so recht, wie wir weitermachen sollen."
"Can I help?", fragt Mike.
"Sind Sie zufällig Zahnarzt?", frage ich? "Nein", sagt Mike, "aber ich kenne einen. Kommt mit zu uns. Wir wohnen nur drei Meilen weiter. Ihr übernachtet bei uns, wir essen schön zu Abend und ich organisiere einen Zahnarzt."
Angie und ich sind baff. Nach einem Tag voller Pleiten, Pech und Pannen geht auf einmal die Sonne auf. Ein Angebot, das wir unmöglich ablehnen können. Also tippe ich die Adresse von Mike und Darlene ins Navi und wir fahren die 5 Kilometer. Als wir ankommen, hat Mike bereits mit dem Zahnarzt (Triathlet, auch in Mikes Radclub) telefoniert. Falls Angie Schmerzen hat, darf sie gleich kommen und der Zahnharzt öffnet wegen ihr die Praxis. Zur Erinnerung: es ist Sonntag! Ansonsten morgen früh. "Morgen früh ist bestens!", meint Angie. Wir bekommen das Gästezimmer mit eigenem Bad und versuchen, das Wechselbad der Gefühle dieses Tages zu verarbeiten. Als ich Mike gegenüber erwähne, dass ich noch das Rätsel mit dem humpelnden Reifen lösen will, sagt er: "Ein Freund von mir ist Fahrradmechaniker. Ich lade ihn zum Abendessen ein. Er wird Dir helfen." Da es aber erst einmal noch später Nachmittag ist, bieten Mike und Darlene uns eine Sightseeing Tour durch Pascagoula an. Erneut ein Angebot, das wir dankend annehmen.
Bis zum zweiten Weltkrieg war Pascagoula eine Fischerstadt, in der 5.000 Menschen lebten. Mit dem Krieg kam die Schiffsbau-Industrie und heute zählt die Stadt an der Golfküste Mississippis über 30.000 Menschen.
Wir sehen wunderschöne Südstaatenhäuser mit gewaltigen und uralten Eichen im Garten und erleben den oben abgebildeten traumhaften Sonnenuntergang.
Mike und Darlene beherbergen immer wieder Langstreckenradler wie uns. "Einmal", so erzählt Mike, "waren 6 Tourenradler bei uns zu Gast. 4 Jugendliche und zwei Betreuer. Sie waren wie ihr wegen technischer Probleme hier gestrandet." Die Nachbarn sind schon gewohnt, dass immer wieder Radler aus aller Herren Länder am 935 Bromblewood Circle auftauchen. Mike und Darlene habe sich hier im Juli 2005 ein wunderschönes Haus gekauft und eingerichtet. 40 Tage später kam Hurricane Katrina. Sie mußten fluchtartig das Haus verlassen, das kurz danach 3 Meter tief in den Fluten versank.
Die Hochzeitsblider ihrer beiden Töchter hatten sie auf die Betten gelegt. Die Holzbetten schwammen und so blieben die Bilder so ziemlich das einzige, das Katrina nicht zum Opfer fiel. Typisch Amerikaner hatten sie die Ärmel hochgekrempelt und wieder von vorne begonnen. Sie durften sich sogar noch zu den Glücklichen zählen, da sie schon nach 2 Wochen das Haus wieder beziehen konnten, auch wenn es einer Turnhalle glich. Viele Einwohner mußten bis zu 3 Jahren in Containern leben. Container, in denen im Winter die Heizung und im Sommer die Klimaanlage nicht richtig funktionierte, Container, in denen fließend Wasser und Abwasser so eine Sache waren. Hab und Gut waren zusamen mit dem Haus im unersättlichen Schlund Katrinas verschwunden.
Jim, der Tausendsassa (u.a. Fahrradmechaniker) kommt zum Abendessen. Jim ist ruhig, beinahe ernst, aber seine Augen lächeln, wenn er spricht. Er arbeitet für eine Ölgesellschaft und ist abwechselnd 4 Wochen in Angola, dann 4 Wochen in den USA. Das ist Pendeln im großen Stil: Afrika - USA - Afrika - USA.... Als ich ihm von dem seltsamen Phänomen mit dem eiernden Hinterrad erzähle, will er sich die Sache sofort ansehen. Was wir tun, wenngleich er auf Anhieb auch nichts sieht, das als Erklärung taugen würde. Aber er empfiehlt mir, den Reifen noch einmal ab- und dann leicht versetzt aufzumontieren, was ich mir für den nächsten Tag aufhebe. Nunc est bibendum, wie wir auf der Baustelle immer sagen. Auf Bayrisch: Jetzt gibt's was zu Trinken und zu Essen.
Am nächsten Morgen fährt Mike Angie zum Zahnarzt und bringt sie 40 Minuten später schon wieder zurück. Möge der Zement lange halten! Ich habe in der Zwischenzeit Jims Rat beherzigt und den Reifen ab- und versetzt wieder aufmontiert. Das Gehoppel ist verschwunden. Wir sind startklar. Nach einer herzlichen Verabschiedung machen wir uns auf den Weg und kommen genau 17 Kilometer weit. Dann fährt Angie über ein scharfkantiges Stück Metall, das den nagelneuen und teuren Schwalbe Marathon Plus Touring aufschlitzt wie ein Skalpell die Epidermis.
Mit einem klauten Knall platzt der Schlauch und wir können keinen Meter mehr weiterfahren. Reparatur unmöglich und Ersatz fällt aus, weil ich nämlich den faltbaren Reifen, den ich die letzten 30.000 Kilometer mitgeschleppt habe, vor zwei Wochen per Post nach Flordia geschickt habe, nachdem ich ihn ja "eh nie brauche". GROSSARTIG! Nie wieder schicke ich irgendetwas nach Florida. Reifen kaufen? Der Radladen in Pascagoula hat am Montag geschlossen. Heute ist Montag. Was tun? Mike anrufen. Der sagt "Ich kann mir einen PickUp Truck organisieren. Ich hole euch ab. Ich kenne einen Radladen in Mobile." Während wir am Straßenrand auf Mike warten, prüfen wir die geänderten Optionen eines Tages, an dem mal wieder nichts nach Plan läuft.
Nach 25 Minuten hält Mike neben uns. Wir laden Räder und Gepäck auf die Ladefläche und Mike fährt uns die 65 Kilometer zum Radladen, wo ein freundlicher Mechaniker einen neuen Reifen auf Angies Rad montiert. Ich kaufe aus purem Trotz gleich noch einen faltbaren Reifen dazu. Jetzt können sie uns Hängematten von Fakiren auf die Fahrbahn legen. Pah! Dann bringt uns Mike die 65 Kilometer wieder zurück und setzt uns exakt an der Stelle ab, an der er uns aufgepickt hatte. Bis zum geplanten Etappenziel "Dauphin Island" schaffen wir es nun im Tageslicht auf keinen Fall mehr. Aber bis Bayou La Batre kommen wir gerade noch, wo ich schon mal vorsichtshalber die Adresse des einzigen Motels ausfindig gemacht habe und mich telefonisch davon überzeugt habe, dass es a) das Motel noch gibt, dass es b) geöffnet hat und dass wir c) ein Zimmer bekommen. Auf dem Weg dorthin passieren wir die Staatsgrenze nach Alabama, dem vorletzten Bundesstaat unserer Reise.
Never surrender!
Till Senn
Das ist eine der schönsten "nix klappt"-Geschichten, die ich kenne!
AntwortenLöschenWeiter so! :-.)
Des einen Leid, des andren Freud.
LöschenNaja, ein paar weniger widrige Umstände und Begebenheiten täten es ja vielleicht auch...
AntwortenLöschenNett, wenn man so hilfreiche Menschen trifft.
Weiterhin viel Erfolg für die nächsten Etappen. Geschneit hat es ja schon, es kann nur besser werden. Be aware of the wild life, was auch immer da so kreucht und fleucht.....
Viele Grüße
Eule
und hauptsach des mit dem Zahn ist O K
AntwortenLöschenund Frage
Fahrt Ihr durch die Müllkippe am Ende der Welt
oder woher kommt der ganze Stahlschrott
by the way
grüßt mir das Meer
war schon lange nicht mehr an einem selbigen
see You
weiterhin viel Glück
Liebe Grüsse
JoeB
Joe, das Müllkippenproblem sind die Seitenstreifen, auf dem sich alles sammelt, was zerplatzte Reifen hinterlassen und dämliche Autofahrer aus dem Fenster werfen. In 99 von 100 Fällen sind es Stahldrähte aus Reifen, aber hin und wieder auch ein Messer, ein Nagel oder - wie in diesem Fall - ein Stück Metall, das einem Tapeziermesser-Messer aufs Haar gleicht. Und auch fast genau so gut schneidet.
LöschenHermann